Interview mit Matthias Hüppi

SonntagsZeitung, 19.04.2020 Mo, 20.04.20 Club Bildbeschreibung

Hier ein interessantes Interview mit unserem Präsidenten aus der aktuellen Ausgabe der SonntagsZeitung.

«Wir sind von 100 auf 0 gebremst worden. Das fährt ein»

Das Interview führten Fabian Ruch und Thomas Schifferle.

Wie ist das Leben ohne Fussball?
Sehr gewöhnungsbedürftig, auch ein Stück weit aus den Fugen geraten. Wir hatten ein Spiel, arbeiteten es während zwei Tagen auf und begannen die Vorbereitung auf das nächste, der Tag des Spiels kam, und wir tauchten wieder voll in diese Welt ein…

...in diese ganze Emotionalität…
...ja, sie entwickelt sich über Tage und Stunden und Minuten. Das ist das, was den Fussball ausmacht: mit dem Publikum, mit einem vollen Stadion. Der Fussball lebt von einer unbeschreiblichen Emotionalität. Und die fällt jetzt weg.

Und die fehlt Ihnen am meisten?
Es ist alles im Zusammenhang zu sehen mit der wunderbaren Geschichte, die unsere Mannschaft in dieser Saison geschrieben hat. Das war ein Lauf, der im sehr eindrücklichen, vielleicht von der Dramatik her auch einmaligen Spiel gegen YB gipfelte (beim 3:3 am 23. Februar). Das war die letzte Begegnung vor der Corona-Pause. Die Erinnerung ist da, sie soll uns motivieren und beflügeln, gerade jetzt, da diese Gefühle fehlen und durch nichts zu ersetzen sind.

Schauen Sie sich noch ab und zu Bilder von diesem Spiel an?
Ja. Aber nicht, um ihnen nachzutrauern. Sie geben mir Kraft, alles dafür zu tun, was in meiner Macht und in meinen Möglichkeiten steht, um mitzuhelfen, dass wir alle solche Momente wieder erleben.

Das hört sich ehrenwert an, muss aber auch mit viel Frust verbunden sein. Kein Mensch weiss, wann es wieder so weit sein wird.
Wenn ich frustriert herumlaufe, dann genüge ich den Anforderungen an meinen Job nicht. Wenn ich lamentieren und ausrufen würde, würde ich alles nur noch mehr lähmen. Ich möchte unterstützen, ermutigen, helfen. Die Zeitachse ist völlig unberechenbar, ich weiss das, aber irgendwie habe ich die Überzeugung… – ach, das kann ich ja später sagen, sonst wird die Antwort wieder zu lange…

...machen Sie nur weiter…
...gut, ich habe die Überzeugung, dass es irgendwann einen Ansatz gibt, damit alles wieder gut wird. Bei uns, beim FC St. Gallen, ist der Teamspirit nicht nur eine Floskel, bei uns existiert er wirklich. Ich spüre das in der ganzen Organisation.

Und welche Stimmung nehmen Sie in der Stadt wahr?
Im Moment gehe ich alleine durch die Stadt. Nur das ist schon schwer zu ertragen. Es ist still, sehr still, nicht nur in St. Gallen. Meine Frau war diese Woche in Zürich, sie arbeitet da. Morgens um halb acht lief sie durch die Bahnhofstrasse und schickte mir ein Bild: Es war menschenleer. Wenn du gerne unter Leuten bist und das Leben gerne hast, ist das eine Szenerie, die zu denken gibt.

Sie verzweifeln trotzdem nicht?
Sicher nicht. Aber ich kann nachvollziehen, wenn es Menschen gibt, die damit ganz erhebliche Probleme haben. Ich verstehe auch, wenn viele das Gefühl haben, ihnen würde der Boden unter den Füssen weggezogen. Manche trifft es ultrahart, aber es trifft alle. Diese Einsicht, dass es alle betrifft, hilft uns auch im Fussballgeschäft, die Relationen nicht aus den Augen zu verlieren.

Wie denn?
Diese Corona-Krise hat uns in einem Moment ereilt, in dem wir mit dem FC St. Gallen die Balance zwischen wirtschaftlicher Stabilität und dem sportlichen Höhenflug erreicht haben. Wir sind, bildlich gesprochen, von 100 auf 0 gebremst worden. Das fährt ein. Und trotzdem bringt es einen nicht weiter, wenn man sich das jeden Tag sagt.

Ihr Verein lebt extrem vom Zusammenhalt, wie lässt sich dieses Grundgefühl in Zeiten von Social Distancing überhaupt pflegen?
Mit ganz intensiver Kommunikation. Die hängt ja nicht nur davon ab, ob man sich aus dreissig Zentimeter Distanz anschauen kann. Es gibt dafür auch Mittel und Wege, wenn man die Regeln einhält. Wie genau jetzt während unseres Gesprächs, da Trainer Peter Zeidler mitten auf dem Platz sitzt und mit einem Spieler aus vier Meter Abstand redet. Das ist ein schönes, vielsagendes Bild. Im Fussball stehen die Spieler im Rampenlicht, aber wir sind ein KMU, verantwortlich für die berufliche Existenz aller Mitarbeitenden. Darum ist es extrem wichtig, dass wir als Verantwortliche Präsenz zeigen. Mich können alle anrufen, Tag und Nacht, ich bin immer auf Empfang, wenn jemand Sorgen hat. Niemand darf das Gefühl haben, er sei isoliert. Das kann sonst zu schweren Problemen führen, bis hin zu Depressionen.

Das ist ein elementarer Punkt.
Ich wünsche mir und gehe eigentlich davon aus, dass sich die verantwortlichen Behörden, welche die Regeln festlegen, der Tragweite dieses Aspekts bewusst sind.

Wie meinen Sie das?
Es wäre anmassend, wenn ich die Entscheide der Behörden kommentieren würde, ich muss sie auch nicht fällen. Aber neben all dem Abwägen schwerwiegender Fragen ist es auch wichtig, dass die Menschen Vertrauen und Empathie spüren.

Der Bundesrat hat am Donnerstag über die neuesten Corona-Massnahmen orientiert und dabei nicht ein Wort über den Sport verloren, der für Millionen im Land so wichtig ist und eine grosse, verbindende Wirkung hat. Wie sehr hat Sie das irritiert?
Ich trage den Sport in mir drin, seit ich die ersten Schritte machen konnte. Ich weiss genau, was er zur Ausgeglichenheit eines Menschen beiträgt. Ich engagiere mich für den Sport und möchte, dass er die gesellschaftliche Bedeutung erhält, die er verdient. Aber dass er es selbst gewesen ist, der seine Interessen und Chancen auf mehr Anerkennung mit der totalen Kommerzialisierung im exzessiven Bereich und ohne Rücksicht auf Verluste auch immer wieder torpediert hat, das ist ein Fakt. Das hat der gesamten Bewegung Schaden zugefügt. Das ist zu spüren, wenn in einem Parlament darüber diskutiert wird, an wen die finanzielle Unterstützung zuerst gehen soll. Wenn dann gewisse Bereiche einfach durchgewunken werden und andere wie der Spitzensport einen schwierigen Stand haben, muss ich das dennoch nicht gut finden. Sicher nicht.

Spitzensport wird immer mit Spitzensalären verbunden, aber viele vergessen, was damit zusammenhängt. Beim FC St. Gallen gibt es nicht nur den Spieler, es gibt auch die Sekretärin wie in jedem KMU.
Genau, und das mit den Spitzensalären ist ein pauschales Vorurteil. Im Übrigen hat auch ein Profifussballer seinen Job nicht mehr, wenn der Laden dichtmacht. Man soll sich, bitte schön, von der Vorstellung trennen, dass alle Fussballer Höchstverdiener sind, die easy ihrem Hobby nachgehen. Es gibt Auswüchse in dieser Fussballwelt, die schon fast pervers sind, aber es gibt auch die andere Seite, und es gibt sehr grosse Nachwuchsorganisationen, die einem Club angehängt sind. Bei uns sind es 800 Kinder und Jugendliche, mit engagierten Trainern, die alles geben, damit die Jugendlichen gut betreut sind – fussballerisch und auch in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit. Das ist etwas, das alle Clubs in der Schweiz machen und das in der ganzen Diskussion nicht vergessen werden darf.

Wie lange kann es so weitergehen? Wie lange kann berstehen, bis es zum Kollaps kommt?
Wir müssen in verschiedenen Szenarien denken, und wir müssen hartnäckig daran arbeiten – immer auch in der Hoffnung, dass es irgendwann wieder normal sein wird, Einnahmen zu generieren. Das ist im Moment und wohl bis auf weiteres sehr schwierig, da wir ja nicht spielen dürfen. Es ist hart und macht mir Sorgen. Wenn uns die Einnahmen fehlen, sehen wir: Gut, bis dahin reichen die Reserven, und dann müssen wir uns grausam viel einfallen lassen, damit es weitergeht. Dass diese Situation nicht zwei Jahre anhalten kann, ist logisch. Dass es nicht ein Jahr so gehen kann, ist auch klar.

Und das heisst?
Wir müssen Schritt für Schritt Massnahmen ergreifen. Wir haben eine gute Ausgangslage geschafen, dank des grossen Engagements aller Kräfte im Club. Wir sind ein Verein mit einem gesunden und vernünftigen Lohngefüge. Das führt dazu, dass wir weiterhin unsere Löhne bezahlen können. Aber auch das ist nicht ewig möglich. Ich bin einfach sicher, dass wir mit der Solidarität, die wir rundherum spüren, überleben werden.

Wie sieht denn Ihr Wunschszenario aus?
Wir sind die Letzten im Umzug, die wieder Veranstaltungen mit Publikum aufführen dürfen. Das ist mir klar, das hat der Bundesrat angedeutet. Auch hier geht es darum, dass man gross denkt, dass man kreativ denkt, dass man auf unkonventionelle Ideen kommt, die helfen, den Fussball wieder auf die Beine zu bringen. Darum sage ich: Man muss an alle und alles denken.

Was kann eine unkonventionelle Idee sein?
Ich möchte meine Gedanken jetzt nicht hier verbreiten, zumal ich in Gremien sitze, die sich mit dieser grossen Herausforderung konstruktiv auseinandersetzen. Es sind schon viel zu viele Pläne in die Öffentlichkeit hinausposaunt worden, die sich in Schall und Rauch aufgelöst haben. Mir geht es nur darum, dass der Schweizer Fuss-ball gut aus dieser Phase herauskommt. Und es ist sicher keine schlechte Idee, selbstkritisch in den Spiegel zu schauen.

Es gibt wilde Planspiele wie in England, dass Mannschaften über Wochen in Hotels kaserniert werden, um die Saison mit Geisterspielen beenden zu können, damit die teilweise gigantischen TV-Einnahmen ür die Clubs fliessen. Sagen Sie auch: lieber solche Spiele als gar keine?
Natürlich wollen wir spielen, das steht über allem. Und sind wir ehrlich: Wir sind Leader, wir haben alles Interesse daran, dass die Saison in irgendeiner Form weitergeht. Wenn Geisterspiele das Richtige sind, dann wäre es das, dann wären wir gezwungen, sie einzuführen. Wenn es andere Möglichkeiten gibt, die Geduld verlangen, dann wäre es halt das.

Gibt es überhaupt eine Alternative zu Geisterspielen, solange kein Impfstoff entwickelt ist?
Auf den ersten Blick nicht. Ich bin ja kein realitätsferner Fantast. Aber ob es machbar und sinnvoll ist, bis Ende Saison noch 13 Runden mit Geisterspielen zu bestreiten, muss genau geprüft werden.

Nach drei Spieltagen finden das die Zuschauer vielleicht nicht mehr lustig…
… das ist möglich, ja, wir müssen einfach einen Ausgang aus dieser sehr heiklen Situation finden. Und wenn es am Ende ein Notausgang ist.

Soll man gar die Meisterschaft abbrechen? Und wenn ja, wer ist dann Meister? YB, weil es im Winter bei Saisonhälfte vorne lag, St. Gallen, weil es jetzt Erster ist, oder gar keiner?
Wir haben uns Position 1 nach 23 Spieltagen verdient. Ich bin überzeugt, dass das, was die Mannschaft gezeigt und Begeisterung und Respekt ausgelöst hat, nicht ohne Lohn bleiben wird. Aber auch das ist nicht das, was mich im Moment am meisten beschäftigt. Schauen Sie zum Beispiel nach Frankreich.

Was ist da?
Auch da haben sie ein paar andere und grössere Probleme als die Frage, ob die Ligue 1 bereits Mitte Mai weitergespielt wird. Meine Tochter lebt da mit ihrem Mann und unserer zweijährigen Enkelin. Sie darf sich nur einen Kilometer von ihrem Haus wegbewegen, sie muss ein Formular dabei haben, auf dem aufgeführt ist, weshalb und wann sie das Haus verlassen hat und wann sie wieder zurückkehrt. Und wehe, sie verlässt diese Zone. Beim ersten Mal gibt das eine Busse von, glaube ich, 200 Euro, nachher geht es in die Tausende, irgendwann landest du im Gefängnis. Oder ich höre den Präsidenten von Brescia in Italien, der sagt, er könne seinen Spielern aus einer Hotspot-Corona-Region in den nächsten zwei Monaten doch nicht zumuten, dass sie spielen.

Die Schweizer Politik hat gross Hilfe angekündigt. Was kommt davon bei Ihrem Verein an?
Das hängt davon ab, wie wir die Instrumente nützen. Kurzarbeit haben wir vorsorglich angemeldet. Und dann ist zu unterscheiden zwischen den KMU-Krediten, die ohne bürokratische Hürden zu beanspruchen sind, sowie den 50 Millionen, die insgesamt für den Profisport gesprochen wurden. Aber wer die in Anspruch nehmen will, hat wirklich gar nichts mehr in der Kasse.

Ein Club muss erst die Zahlungsunfähigkeit nachweisen, bevor er auf Gelder aus diesem Fonds zurückgreifen kann.
Dann bist du mit einem Bein bereits im Abgrund, ja. Das ist Ultima, Ultima, Ultima Ratio.

Welchen Beitrag leisten die Spieler, um Ihrem Club zu helfen? Spielt auch in dieser Beziehung der Teamgedanke?
Selbstverständlich. Es werden in der gesamten Organisation des FC St. Gallen alle ihren solidarischen Beitrag leisten, damit wir die schwierige Situation meistern können.

Was haben Sie persönlich in dieser Corona-Zeit gelernt?
Noch stärker zu relativieren. Mir muss also definitiv keiner mehr mit Reklamationen wegen Peanuts wie irgendeinem Veloständerproblem kommen. Sonst haut es mir den «Nuggi» raus. Noch mehr zu akzeptieren, dass es gewisse Tatsachen gibt, die man nicht wegwischen kann. Dass Menschen in einer Organisation immer gut aufgehoben sein müssen, vor allem dann, wenn es schwierig wird. Dass alle zum Verzicht gezwungen werden und keiner einfach so zum Courant normal zurückkehren kann. Und noch eines ist für mich wichtig.

Was?
Wenn etwas hängen bleiben soll von dieser Krise, dann soll es die Solidarität sein. Dieses Wort wird zwar extrem strapaziert, aber wenn nur ein klein wenig hängen bleibt, ist schon etwas gewonnen. Ich weiss aber auch, dass der Mensch den Drang hat, schnell zu vergessen und zur Tagesordnung überzugehen.